Minden. Gestern war „ein rabenschwarzer Tag für die Evangelische Kirche“. U. a. mit diesen Worten wurde in Hannover die Veröffentlichung der ForuM-Studie zum Thema Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie eingeleitet.
ForuM – das ist die Abkürzung für „Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“. Ein Forschungsverbund, der aus sieben unabhängigen wissenschaftlichen Hochschulen und Instituten besteht, hat Fälle sexualisierter Gewalt im kirchlichen und diakonischen Kontext untersucht. Herausgekommen ist eine rund 870 Seiten starke Studie.
ForuM spielt eine zentrale Rolle in dem Bemühen der evangelischen Kirche darum, sexualisierte Gewalt im kirchlichen und diakonischen Kontext aufzuarbeiten und für die Zukunft zu verhindern. „Das gilt auch dann, wenn bei der Präsentation der Studie deutlich geworden ist, dass die ermittelten Fallzahlen letztlich nicht so aussagekräftig sind wie zu hoffen war, da die Kirche nicht in der Lage gewesen ist, umfassend Einblick in Personalakten zu ermöglichen, obwohl das im Forschungsvertrag vereinbart war“, erklärt der Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Minden, Michael Mertins. „Das ist mehr als ärgerlich.“ Zugleich führe die Untersuchung vor Augen, wie sehr kirchliche und diakonische Strukturen dazu beigetragen hätten, dass sexualisierte Gewalt in evangelischen Zusammenhängen bislang möglich war und dass Vieles deutlich anders werden müsse, damit sich das in Zukunft wirklich ändern könne.
Die Untersuchung ist veröffentlicht auf der Internetseite des Forschungsverbunds (www.forum-studie.de).
Im Evangelischen Kirchenkreis Minden ist kurz vor der Präsentation der Studie ein erschütternder Fall sexuell motivierter Übergriffigkeit bekannt geworden, der im Grunde ein Musterbeispiel dafür ist, was der Forschungsverbund aufgedeckt hat. In den späten 1970er / frühen 1980er Jahren soll der Pfarrer der Kirchengemeinde Lahde mehrere Jungen im Teenager-Alter „sexuell belästigt“ haben. Aktuell sind dem Kirchenkreis vier von ihnen namentlich bekannt. Erst 1998 fand einer der Betroffenen den Mut, sich der Leitung des Evangelischen Kirchenkreises Minden anzuvertrauen. Diese informierte den Theologischen Vizepräsidenten und Personaldezernenten der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW). Nach damaligem Recht waren die Fälle zu diesem Zeitpunkt bereits verjährt. Der Pfarrer sagte aus, dass er sich an nichts erinnern könne. Letztlich wurde ihm nahe gelegt, von der damals gültigen Vorruhestandsregelung Gebrauch zu machen. So ging er mit 58 Jahren in den Ruhestand und verließ den Kreis Minden-Lübbecke; inzwischen lebt er nicht mehr. Zu einem Disziplinarverfahren oder einem Vermerk in der Personalakte des Mannes bei der Landeskirche kam es nicht. Das Presbyterium hat damals mit zwei Betroffenen Gespräche geführt, um sie zu unterstützen. Allerdings wurde in Abstimmung mit der damaligen Leitung des Kirchenkreises beschlossen, diese Fälle sexualisierter Gewalt nicht öffentlich zu machen.
„Erst jetzt, mehrere Jahrzehnte später, hat ein Mitglied der Gemeinde das Schweigen gebrochen und sich mir anvertraut“, berichtet Mertins. Mit dem Blick auf die Veröffentlichung der ForuM-Studie habe diese Person es nicht länger mit sich vereinbaren können zu schweigen und beschlossen, ihn in seiner Eigenschaft als amtierender Superintendent zu informieren.
Mertins ist entsetzt und zutiefst betroffen von dem, was er erfahren hat. „Unsere Kirche hat hier in beschämender Weise versagt und gemeinsam mit der Gemeinde und der Landeskirche werden wir alles daran setzen, diesen Fall umfassend aufzuarbeiten“, betont er. Er hat die Fälle aus Lahde bei der Meldestelle der Landeskirche für Fälle sexualisierter Gewalt angezeigt und mit dem Theologischen Vizepräsidenten sowie der Personaldezernentin besprochen. Daraufhin wurde ein Interventionsteam eingerichtet, in dem Landeskirche, Meldestelle, Kirchenkreis und Kirchengemeinde vertreten sind. Die Landeskirche prüft, ob Disziplinarverfahren gegen damals verantwortliche Personen eingeleitet werden. Eine gemeinsame Sitzung des jetzigen Presbyteriums der Gemeinde und Presbyter*innen aus der Zeit um 1998 mit Superintendent Mertins hat bereits stattgefunden. „Parallel dazu haben wir Kontakt aufgenommen mit den uns namentlich bekannten Betroffenen, unser tiefes Bedauern zum Ausdruck gebracht und sie gefragt, was wir hoffentlich heute noch, nach all den Jahren, für sie tun können“, berichtet Mertins.
Anders als in der Vergangenheit hat die Kirche heute Richtlinien, wie mit Fällen sexualisierter Gewalt umzugehen ist. Seit November 2020 ist das Thema fest verankert im Kirchengesetz der EKvW. Das „Kirchengesetz zum Schutz vor sexualisierter Gewalt“ legt fest, dass kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter allen Umständen dazu verpflichtet sind, jeden Verdacht auf sexualisierte Gewalt zu melden. Alle in der Kirche hauptamtlich mitarbeitenden Personen müssen außerdem bei der Einstellung und danach alle fünf Jahre erneut ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen und an einem umfangreichen Schulungsprogramm zur Prävention sexualisierter Gewalt teilnehmen. Vom Gesetz vorgeschrieben ist auch die Einrichtung einer „Melde- und Ansprechstelle“ bei der Landeskirche, deren Aufgabe es ist, Verdachtsfällen nachzugehen und in angemessener Weise zu intervenieren.
Sinn und Aufgabe der Melde- und Ansprechstelle ist darüber hinaus, dass Betroffene, die sich dort von sich aus melden, kompetent beraten und begleitet werden. Über eine unabhängige Kommission ist es für Betroffene auch möglich, eine finanzielle „Anerkennungsleistung“ zu erhalten. „Natürlich ist es keinesfalls möglich, geschehenes Unrecht durch Geld aus der Welt zu schaffen, aber die Kirche kann durch eine solche Anerkennungsleistung zum Ausdruck bringen, dass sie erfahrenes Leid wahrnimmt und zutiefst bedauert“, erklärt Mertins. Viele Betroffene empfänden eine solche Leistung als symbolische Geste, die ihnen guttue und sie entlaste. Anderen gehe es vor allem darum, gehört zu werden und sie lehnten die finanzielle Leistung ausdrücklich ab. Die „Fachstelle Prävention und Intervention“ ist zu erreichen unter der Telefonnummer (0521) 594-381.
Im Hinblick auf die ForuM-Studie wertet Mertins den Fall aus den 70er / 80er Jahren als Beleg dafür, wie wichtig es ist, dass die evangelische Kirche und ihre Diakonie alles daran setzen, sexualisierte Gewalt und andere Missbrauchsformen aufzudecken und aufzuarbeiten. Die ForuM-Studie leistet dazu einen wichtigen Beitrag. Sie untersucht aus einer historischen Perspektive den kirchlichen und öffentlichen Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche (Teilbereich A), die bisherige Praxis der Aufarbeitung (B), die Erfahrungen und Sichtweisen von Menschen, die sexualisierte Gewalt in evangelischem Umfeld erlitten haben (C), die Perspektive Betroffener auf Strukturen der evangelischen Kirche und deren Nutzung durch Täter*innen (D). Darüber hinaus sind im Rahmen der Studie Kennzahlen zur Häufigkeit solcher Fälle und der erfolgten Aktenführung entstanden (E).
Die Studie berücksichtigt alle Fälle, die im Zeitraum von 1946 bis 2020 bei Landeskirchen und Diakonie-Landesverbänden aktenkundig geworden sind. Von Seiten der EkvW sind in die ForuM-Studie Daten über 110 Beschuldigte und 251 Betroffene aus dem Zeitraum 1946 bis 2020 eingeflossen. In dieser Zeit erfolgten in Westfalen 18 Disziplinarverfahren gegen Pfarrpersonen.
Diese Zahlen beschreiben das so genannte „Hellfeld“ der Studie und kommt dabei zu einem für die Institution Kirche rabenschwarzen, erschütternden Ergebnis. Dem Hellfeld gegenüber steht das „Dunkelfeld“ mit Fällen, über die der Forschungsverbund keine Informationen hatte.
In dieses Dunkelfeld gehört der jetzt bekannt gewordene Fall aus dem Kirchenkreis Minden, denn in den Akten der Landeskirche kommt er nicht vor. Allerdings ist die ForuM-Studie auch in keiner Weise als letztes Wort zum Thema sexualisierter Gewalt in evangelischer Kirche und Diakonie gemeint, sondern als bedeutender Baustein in einem gründlichen Aufarbeitungsprozess. Im nächsten Schritt werden sich in allen Landeskirchen „regionale Aufarbeitungskommissionen“ bilden, die sich sowohl mit den in der Studie berücksichtigten Fällen auseinander setzen werden als auch mit solchen, die bislang vor Ort in den Kirchenkreisen und Gemeinden im Verborgenen geblieben sind wie der hier beschriebene Fall in einer Gemeinde des Kirchenkreises Minden.