Als Kind habe ich mich leidenschaftlich gerne auf den kleinen Karussells auf den Spielplätzen gedreht, die man selber anschieben konnte. Wenn sie sich so richtig schnell drehten, habe ich mich abwechselnd weit hinausgelehnt und dann wieder die Nähe des Mittelpunktes gesucht. So kann man Zentrifugal- und Zentripetalkraft hautnah erleben – diese Namen lernte ich später im Physikunterricht. Am tollsten war es mitten im Drehen abzuspringen und es drehte sich im eigenen Kopf immer noch weiter – das Schwindelgefühl war einfach toll! So mancher Erwachsene fühlt sich heute mit Blick auf das Zeitgeschehen so ähnlich, nur findet das kaum einer noch toll.
„Die Zeit ist verrückt geworden! Wer weiß was das nächste Jahr noch bringen wird …“.  Mir ist beim Gedanken an Sylvester dieses Jahr aufgefallen, dass zwei meiner Kollegen, Dietrich Bonhoeffer und Jochen Klepper, in der Nazizeit Sylvestergedichte geschrieben haben, die später vertont wurden und die heute noch im evangelischen Gesangbuch stehen. „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ (EG 65 und 652) und „Der du die Zeit in Händen hältst“ (EG 64). Sie lebten in schwierigeren Zeiten – haben sie etwas gefunden, was auch mich in diesen Tagen tragen kann? Jochen Klepper, der mit einer jüdischen Frau verheiratet war und deshalb in seiner schriftstellerischen Arbeit immer wieder diskriminiert wurde, schrieb noch vor Beginn des 2. Weltkrieges 1938: Der du die Zeit in Händen hast, Herr nimm auch dieses Jahres Last und wandle sie in Segen. Nun von dir selbst in Jesus Christ die Mitte fest gewiesen ist, führ uns dem Ziel entgegen. Da ist sie wieder – die Mitte in allen Drehungen, die alles zusammenhält – Jesus Christus, der mit seinem Leben die Liebe Gottes vorgelebt hat – die Liebe, die auch meine Zeit in den Händen hält und die meine Bruchstücke, selbst mein Scheitern und Versagen in Segen verwandeln kann. Das habe ich schon erlebt.
Diese Mitte hält den Fliehkräften meines Lebens stand, von denen Jochen Klepper am Ende schreibt: Der du allein der Ewge heißt und Anfang, Ziel und Mitte weißt im Fluge unsrer Zeiten: Bleib du uns gnädig zugewandt und führe uns an deiner Hand, damit wir sicher schreiten.  Ich kann mich weit hinauslehnen, aber die Mitte hält mich. Der Flug unserer Zeiten macht vielleicht nicht mehr so schön schwindelig, wie das Karussell mich als Kind gemacht hat, und doch kann ich mich ihm anvertrauen, weil ich ihn in den Händen Gottes sehe. So kann ich vertrauensvoll über die Schwelle des neuen Jahres gehen und auch schwindelig sicher schreiten, weil ich mich gehalten glaube von Gottes liebevoller Zugewandtheit.
So wünsche ich Ihnen und Euch allen ein gesegnetes Jahr 2024, bleiben Sie behütet.

Katja Reichling

Katja Reichling

Pfarrerin an der Christuskirche Todtenhausen/Kutenhausen