Wort zum Sonntag

Das „Wort zum Sonntag“ von Pfarrerinnen und Pfarrern aus dem Mindener Land gibt es in der Samstagsausgabe des Mindener Tagesblatts – und darüber hinaus auch hier.

Nehmt einander an wie Christus euch angenommen hat….

Ich sehe die beiden alten Männer noch genau vor mir, wie sie sonntags sich gegenseitig stützend zum Gottesdienst kamen. Es war in den 90ziger Jahren. Kurt war 93, groß, schlank, Kräftig. Altersbedingt war er blind geworden. Früher, in seinem kommunalpolitischen Engagement hat er die Werte der SPD verkörpert. Er war also dem Volksmund nach rot. Karl war 89, körperlich etwas gedrungen, krankheitsbedingt auf den Rollstuhl angewiesen, traditionell geprägt. Er liebte die CDU. Er war nach dem Volksmund schwarz. In verschiedenen Ausschüssen brachte er seine Kompetenz ein. Ich hatte mir erzählen lassen, dass sie da, wo sie sich begegneten, leidenschaftlich um die Sache gerungen hatten. Da sei es manchmal heiß hergegangen und es wurde mit harten Bandagen gekämpft. Aber sie hatten nie den Respekt und die Achtung voreinander verloren, so unterschiedlich sie auch gewesen waren.

Jahre später trafen sie in Salem aufeinander. Beide vom Leben gezeichnet. Keiner konnte mehr alleine leben. Sie hörten voneinander. Sie entdeckten sich mit ihren verbliebenen Ressourcen. Sie kamen zusammen zum Gottesdienst. Kurt, der nichts mehr sehen konnte, schob den Rollstuhl. Und Karl gestikulierte wild, beschrieb dabei lauthals den Weg: etwas links, Achtung Tür… Sie wurden ein eingespieltes Team. Als Paar kamen sie zum Abendmahl. Sie wurden zum lebendigen Gleichnis, wie der Glaube Menschen verbinden und versöhnen kann. Aus Achtung, aus Respekt und Liebe!

Mich faszinieren solche Beispiele! Sie zeigen, es geht immer noch einmal anders. Die alte Tugend des Respektes, die uns manchmal hart und autoritär in den Ohren klingt, birgt viele Farben in sich. Sie nimmt den ganzen Menschen in Blick und sucht in allen Sprachen des Körpers nach Ausdruck. Respekt wird spürbar in zarten Berührungen, Gesten und Bewegung. Respekt lässt sich in Augen lesen, in einem liebevollen oder staunenden Blick. Wer ihn pflanzt, investiert ins Leben.
„Nehmet einander an wie Christus euch angenommen hat zum Lobe Gottes“. (Rö.15,7)

Zärtlich nimmt die Mutter das Kind in den Arm, schaut sich das aufgeschlagene Knie an, tröstet und wischt die Tränen ab, die die Wange des Kindes hinunterlaufen. Nun kann alles wieder gut werden, zumindest ein Stück weit. Auch wenn wir erwachsen sind, gibt es diese Momente, in denen es so wohltuend ist, wenn wir getröstet werden. „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen …“. Was für ein starkes Bild finde ich im letzten Buch der Bibel, gerade richtig für graue, trübe Novembertage. Die Worte berühren mich. Gott sieht jede Träne, die ein Mensch weint: Tränen der Trauer und des Schmerzes, Tränen der Verzweiflung und des Leids. Bei ihm sind sie gut aufgehoben. Ganz gewiss schaut er nicht aus irgendeiner Ferne auf unsere Sorgen und Nöte, vielmehr kommt er zu jedem und jeder von uns persönlich, rührt uns an. Wir dürfen unsere Tränen weinen, unseren Schmerz zeigen. Gott bietet sich als Adressat unserer Tränen an. Aber er ermutigt uns auch, die Trauer und die Tränen unserer Mitmenschen zu begleiten, Tränen bei ihnen abzuwischen. Gott tröstet. Oftmals erleben wir das durch liebevolle Worte, kleine Gesten und Zeichen, die ein anderer Mensch uns schenkt. „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein …“ – Eine zärtliche Berührung Gottes, die etwas von dem erahnen lässt, das einmal sein wird. Es wird eine Zeit kommen, in der alle Tränen getrocknet sein werden. In Gottes Ewigkeit wird es keine Tränen und auch keinen Tod mehr geben. Dafür steht Jesus Christus, ein Lichtblick in den Schattenseiten unseres Lebens. Er hat dem Gott, der am Ende die Tränen abwischen wird, vertraut. Das dürfen wir auch. Alles kann gut werden.

Hans-Ulrich Görler

Hans-Ulrich Görler

Pfarrer in Salem Köslin und in St. Martini, Minden

Unsere Väter

Kürzlich war ich auf dem Friedhof und habe das Grab meines Vaters gepflegt. Ein paar Gräber weiter steht ein Grabstein mit der Inschrift: „Es ist genug. Ich bin nicht besser als meine Väter.“

Mein Vater, mein Großvater, mein Urgroßvater. Und ich der Sohn. Wer ist der Bessere? Eine spannende Frage. Wahrscheinlich hat jeder der vier Zeiten gehabt, in denen er meinte, der Bessere zu sein. Natürlich – das gehört zur Entwicklung eines jeden Sohnes dazu. Ich weiß heute, dass ich nicht besser bin. Ich bin es nie gewesen und werde es nicht sein.

Aber die Herausforderungen im Leben der vier sind sehr unterschiedlich gewesen.

Mein Urgroßvater lebte um die Jahrhundertwende von der Landwirtschaft, ein kleiner Acker, wenig Brot, wenig Geld, viele Kinder. Die herausragenden Veränderungen um die Jahrhundertwende hatten wenig Einfluss auf sein tägliches Leben.

Mein Großvater war Teilnehmer des Ersten Weltkrieges. Er verlor als junger Mann einen Arm und musste seitdem alles mit dem verbleibenden Arm machen. Während er sich auf Grund seines Einsatzes im sogenannten Kirchenkampf vor den Behörden verantworten musste, wurde mein Vater inmitten der rasant alles vereinnahmenden Ideologie der Nationalsozialisten zum Erwachsenen.

Er musste mit 17 als Soldat in den Krieg und kam erst 1948 aus der Gefangenschaft in Rußland zurück. Es kam der Wiederaufbau des Landes und der Beziehungen in den Familien, dem Land, dem Kontinent. Seit vielen Jahren liegt mein Vater nun auf dem Friedhof. Und der Sohn? Ich lebe in einer Phase des Friedens und des Wachstums, wohlgeraten. Die äußeren Umstände, Politik und Wirtschaft, waren ausgezeichnet.

Es ist noch nicht genug. Aber ich weiß, ich bin nicht besser als meine Väter. Ich habe es besser (gehabt).

Heute gehe ich voller Respekt vor „meinen Vätern“ auf den Friedhof, mit voller Achtung vor den gesellschaftlichen, politischen und familiären Herausforderungen, denen sie sich stellen mußten.

Übrigens das Zitat auf dem Grabstein stammt aus der Geschichte des Elia, der besser sein wollte als seine Väter. Darüber wurde er lebensmüde und zog sich unter einen Wachholder zurück und wollte sterben.

Ein Engel half ihm wohl zu der Erkenntnis, dass er nicht besser ist als seine Väter und das Leben trotzdem lebenswert ist. Er stand auf und aß und ging seinen Weg.

Eckhard Hagemeier

Eckhard Hagemeier

Pfarrer, unterrichtet Evangelische Religion am Gymnasium Porta

Schmuckstück des Meeres

 

Neulich am Strand: Unzählige Muscheln liegen im Sand, an einer bleibt mein Blick haften. Ich hebe sie auf, betaste die Rillen und bewundere die Farbgestalt. Ich denke mir: Sie ist wirklich ein Schmuckstück des Meeres, ein Wunderwerk der Schöpfung.

Eigentlich ist das wie bei den Menschen: Da gleicht auch keiner dem anderen, jede und jeder ist ein Wunderwerk der Schöpfung.

Die Muschel hat an einer Stelle eine abgeschlagen Kante. Auch das kenne ich von uns Menschen: Eine Wunde, die nur schwer verheilt, eine Narbe, die ein Leben zeichnet.

Ich muss an die Perle denken, die in manchen Muscheln wächst:

Sie entsteht, wenn ein Sandkorn oder ein Parasit in das Innere einer Muschel gerät. Für manche Muschel kann das ganz verletzend und gefährlich werden. Die Muschel versucht, die Gefahr einzuwickeln. Dadurch führt das, was so furchtbar erschien, letztlich dazu, dass die Muschel im Besitz einer wunderschönen, schimmernden Perle ist.

Das passt auch zu uns Menschen: Unser Leben führt nicht nur durch Sonnenschein, selbst dann nicht, wenn Menschen auf Gottes Liebe vertrauen. Nein, auch dann bleiben einem schwere Erfahrungen nicht erspart, solche, wo nichts von der Liebe spürbar ist und auch Gebete scheinbar nichts verändern.

Die Bibel selbst berichtet davon, dass Menschen darüber in tiefe Verzweiflung gerieten.

Aber sie berichtet auch davon, dass Menschen in solchen Situationen an Gott festgehalten haben und sie manch schwere Zeiten mit Hilfe ihres Glaubens und mit Hilfe anderer Menschen überstehen konnten.

Und manchmal sagen Menschen, dass solche Erfahrungen sie doch auch reicher gemacht haben, z.B. weil sie gelernt haben, was wirklich wichtig ist im Leben. Und weil ihr Vertrauen auf Gott daran gewachsen ist. Auch wenn das Schwere nicht vergessen wird, kann letztendlich eine Perle des Lebens, eine Perle des Glaubens, daraus werden.

 

Eine Weile halte ich meine Muschel noch in der Hand und schaue sie an. Dann gehe ich weiter. Aber ich werfe die Muschel nicht zurück in den Sand – dazu ist sie mir zu wertvoll geworden.

Wenn das doch bei uns Menschen auch so wäre, dass andere Menschen uns viel zu kostbar und wertvoll wären, um achtlos an ihnen vorüber zu gehen, sie wohlmöglich „wegzuwerfen“ oder gar „auf ihnen herumzutreten“!

 

Meine Muschel hat nun einen Ehrenplatz bekommen auf meiner Fensterbank – als ein Schmuckstück des Meeres und als ein gutes Bild für unser Leben.

 

 

 

 

Horst Fißmer

Horst Fißmer

Pfarrer in der Kirchengemeinde St. Marien/Christuskirche