Minden. 75 Jahre Grundgesetz und 90 Jahre Barmer Theologische Erklärung: Gleich zwei grundlegende Dokumente des modernen freiheitlichen Deutschlands galt es zu feiern. Der Evangelische Kirchenkreis Minden und die Stadt Minden hatten in die Marienkirche geladen, wo Superintendent Michael Mertins mit Bürgermeister Michael Jäcke sowie den beiden Vortragenden Annette Ziebeker vom Pfad der Menschenrechte und Professor Dr. Dr. h. c. Michael Beintker ihre persönliche Sicht auf dieses „Erbe der Freiheit“ darstellten.

Selbst die Musik war hochpolitisch: Das Trio Tipico Westfalica hatte zur doppelten Geburtstagsfeier Stücke voller widerständigem Geist von Astor Piazzolla ausgesucht, wie seiner Freiheitshymne „Libertango“, vor 50 Jahren im krisengeschüttelten Argentinien entstanden. Mit Rebbeka Wittig-Vogelsmeier am Cello zum Cuarteto Tipico gewachsen begleiteten sie den Abend in der Marienkirche mit energiereichen, oft aufrüttelnden Tangoklängen.

Mit einem persönlich eingefärbten Grußwort eröffnete Landrat Ali Dogan nach der Begrüßung durch Michael Mertins und Michael Jäcke den Abend. Er erinnerte daran, dass Menschen in vielen Staaten nicht solchen Schutz wie den des Grundgesetzes genießen könnten. „Die Grundrechte, die ersten 19 Artikel des Grundgesetzes reichen für ein friedliches und zivilisiertes Zusammenleben“, sagte Ali Dogan. Diese seien ein „rechtlicher Wohlstand“, der oft nicht geschätzt und in jüngster Zeit immer mehr angegriffen würde. Es sei die Verantwortung aller, sie zu wahren. Deshalb brauche es nicht nur Vordenker wie die Barmer Bekenntnissynode oder den Parlamentarischen Rat oder stille Nachdenker, sondern aktive Mit-Denker.

Annette Ziebeker, Initiatorin des Mindener Pfads der Menschenrechte, nutzte ihren Vortrag, um auf ein weiteres Geburtstagskind hinzuweisen: Während in Bonn der parlamentarische Rat am Grundgesetz feilte, wurde im Dezember 1948 in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet. „Eine Botschaft der Menschheit an sich selbst“, zitierte Annette Ziebeker die Schriftstellerin Juli Zeh, und zwar eine Botschaft, die gilt, selbst wenn man ihren Inhalt nicht kennt. Der Pfad der Menschenrechte soll helfen, den Inhalt doch bekannter zu machen.

Prof. Dr. Dr. h. c. Michael Beintker, emeritierter Professor für systematische Theologie an der Universität Münster, beleuchtete die Entstehung und Inhalte der Barmer Theologischen Erklärung in seinem kurzen, aber inhaltsvollen Vortrag. Anschaulich schilderte er die Bedrängung durch die NS-nahen Deutschen Christen, die „SA Jesu Christi“, und tauchte tief in die Bekenntnisschrift der frühen bekennenden Kirche ein. Als zukunftsoffenes Dokument habe die Erklärung, wie auch das eigentlich als Provisorium gedachte Grundgesetz, immer noch aktuelle Wirkkraft. Sie „reizt zum Widerstand gegen Verführbarkeit, Dummheit und Trägheit“, sagte der Theologe, auch aus eigenem Empfinden im Rückblick auf seine Jugend in der DDR.

Manche der Teilnehmer der Barmer Bekenntnissynode, 137 Männer und eine Frau, seien sich nicht einmal bewusst gewesen, welches liberale demokratische Staatsverständnis durch den Schweizer Karl Barth in die Erklärung Eingang gefunden hätte, erklärte Beintker. Dadurch habe die Barmer Theologische Erklärung auch ein Erbe im Grundgesetz hinterlassen.

Die Barmer Erklärung habe die „Aufladung der Politik mit Erlösungsideen“ abgelehnt. Staat und Kirche sollten ihre gesellschaftliche Funktion getrennt, aber miteinander ausfüllen: ein Prinzip, das auch im Grundgesetz lebt und ganz praktisch vor Ort gelebt wird. „Viele der Aufgaben, die die Kirche hier in Minden übernimmt, könnten wir als Stadt nicht leisten“, stimmte Bürgermeister Michael Jäcke zu und griff damit den Dank Ali Dogans für das gesellschaftliche Engagement des Kirchenkreises auf.

Trotz des Muts, sich gegen Führerprinzip und den totalitären Staat zu stellen, bleibe auf der Barmer Bekenntnissynode der Makel, sich nicht aktiv gegen die Judenverfolgung ausgesprochen zu haben, wie ein Kommentar aus dem Publikum anmerkte. Zwischen den Zeilen hätte sie das, „und in totalitären Gesellschaften werden Andeutungen verstanden“, sagte Michael Mertins, „aber wir in unserem freien Land sollten nicht andeuten, sondern eindeutig sein.“ Nicht zuletzt daher gebe ihm die Erklärung die Freiheit, aus seinem Glauben heraus gesellschaftlich Position zu beziehen.

Ungefähr 100 Gäste hatten die Bänke der Marienkirche gefüllt und mit zahlreichen Fragen die von Erwachsenenbildungsreferentin Katrin Weber gekonnt moderierte Podiumsdiskussion begleitet. Die meisten von ihnen blieben in angeregten Gesprächen gern auch noch zum Anstoßen und zum Geburtstagsbuffet in der Marienkirche.

(Beitrag von Kevin Potter)