Wenn ein Künstler aus einem hölzernen Stamm ein Gesicht schnitzen will, dann steht am Anfang seine Vorstellung und dem gegenüber das gewachsene Material.
Das „Rohmaterial“ eines Menschen ist seine Genetik, die frühen kindlichen Prägungen, denen der Mensch ausgeliefert ist, und die es noch nicht selber gestalten kann.
In dieser Zeit wird schon deutlich, ob das Gesicht eines Kindes eher sorgenvoll und ängstlich oder gelassen, fröhlich und unternehmungslustig werden wird.
Spätestens am Ende seiner Jugend und im Beginn des Erwachsenwerdens gestaltet der Mensch sein Gesicht selber mit: Durch seine Lebensentscheidungen, durch seine Beziehungsentscheidungen, durch seine Einstellungen und seine Glaubensentscheidungen.

Und vor jede Entscheidung ist eine Wahl gestellt: – Ob ich mein Leben nach Lust und Laune laufen lasse, ob ich in meinen Entscheidungen verbindlich und berechenbar bin, ob ich Unvorhergesehenes mit Distanz und Humor nehme oder ob ich verbittert werde, wenn ich Schicksalsschläge in mein Leben integrieren muss.

Am Anfang meiner gruppendynamischen Kurse machte ich eine überraschende Erfahrung. Wir waren 60 Personen und keiner kannte den Anderen. Der Leiter gab uns die Aufgabe, in Kleingruppen den Beruf unseres Gegenübers zu raten. Mir gegenüber saß ein gestandener 50-jähriger. Er fixierte mich eine halbe Minute: „Sie sind ein esoterischer Spinner, entweder sind sie Künstler oder Theologe!“, sagte er wohlwollend verschmitzt. Getroffen, Schiff versenkt! Ich ließ seine Persönlichkeit auf mich wirken: „Sie sind Metzger, entweder sind Sie Chirurg oder Analytiker.“ Getroffen, Schiff versenkt! Er war Analytiker.

Unser Gesicht ist unsere Adresse und unser größtes Fenster. Mehr als wir glauben, ist es durch unsere Entscheidungen geprägt. Aber vor jede Entscheidung ist eine Wahl gestellt.

Wolfgang Ricke

Wolfgang Ricke

Katholischer Pfarrer am Johannes Wesling Klinikum Minden