Mitte Januar war ich für ein paar Tage in Berlin. Am Straßenrand lagen anfangs noch die sorgfältig abgeschmückten Weihnachtsbäume als letzter Gruß vom großen Fest. Sage und schreibe 356 000 davon hat die Berliner Stadtreinigung in diesem Jahr eingesammelt und geschreddert. Zwischenzeitlich jedoch erfüllten einige dieser Nadelgehölze einen Zweck, mit dem ich so nicht gerechnet hatte: Obdachlose Menschen in den Seitenstraßen am Alex und anderswo hatten sich aus dem Geäst einen Windschutz gebaut für ihr nächtliches Lager unter freiem Himmel im eisigen Winterwind der Hauptstadt. Der Anblick irritierte. Eigentlich ist es ja eine höchst sinnvolle Zwischennutzung dieses Reliktes bürgerlicher Weihnachtsseligkeit, könnte man meinen. Aber die Kontraste sind nur schwer erträglich. Dort jemand, dessen gesamte Habe in einem entwendeten und zweckentfremdeten Einkaufswagen Platz hat, und wenige Schritte weiter eine völlig andere Welt: Chic gekleidete Menschen schlendern lässig durch die Luxuswarenabteilungen im KaDeWe, nehmen die vierstelligen Preisschilder sportlich und können sich scheinbar alles leisten.
Ein Bibelwort kam mir in den Sinn, ein Gebet, das im alttestamentlichen Buch der Sprüche, Kapitel 30, Vers 8 und 9 überliefert ist:
Armut und Reichtum gib mir nicht, lass mich aber mein Teil Speise dahinnehmen, das du mir beschieden hast. Ich könnte sonst, wenn ich zu satt würde, verleugnen und sagen: Wer ist der Herr?  Oder, wenn ich zu arm würde, könnte ich stehlen und mich am Namen meines Gottes vergreifen.
Die goldene Mitte zwischen Reichtum, der satt macht und überheblich, und Armut, die verzweifeln lässt, – ja das sollte es ein. Darum wollen wir bitten und dafür eintreten in unserem Land und weltweit, damit nicht wenige alles haben und viele nichts und nicht scheinbar unendlicher Wohlstand dort elender Armut hier so hart begegnet. Jesus hat den Armen Respekt und Augenmerk erwiesen, aber er hatte auch keine Berührungsängste und war öfters zu Gast bei Wohlhabenden. Beiden hat er das Evangelium von der unbedingten Liebe Gottes gebracht. Dieses Evangelium aber schließt weltveränderndes Handeln nicht aus, sondern ein.

Einen gesegneten Sonntag wünscht

Christian M. Weber

Christian M. Weber

Pfarrer, Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Hartum-Holzhausen