Viele Kinder haben sie irgendwann, die Phase in der sie Steine sammeln. Offenbar auch ich. Als ich mit Anfang zwanzig mein Kinderzimmer auflöste, fand ich sie wieder: Eine ganze Box voll Steine. Ganz verschiedene Steine: kleine, große, runde, kantige, Feuersteine, Kieselsteine, Sandsteine. Bei keinem davon konnte ich erkennen, was mein Kinder-Ich dazu bewogen hatte ausgerechnet diesen Stein aufzuheben. Ich brachte sie in den Wald. Kippte den Inhalt der Box einfach in das tiefe Laub am Hang eines Hügels. Was für eine Erleichterung.
Auch in unserem Alltag sammeln wir oft Steine, manche bewusst, andere unbewusst. Steine mit Namen wie Einsamkeit, Trauer, Angst, Stress, Sorge, Druck, Anspruch, Schuld. Steine, die uns belasten, die sich wie Mauern vor uns auftürmen, die uns den Weg versperren.
Auch in der Ostergeschichte gibt es sie, die Steine. Mit einem großen Stein hatte man das Höhlengrab, in das man Jesu Leichnam gebracht hatte, verschlossen. Der Stein versperrte den Menschen den Weg zu Jesus. Er markierte die Grenze zwischen Leben und Tod. Die Ereignisse der Karwoche, Jesu Festnahme, Verurteilung und Hinrichtung lasten schwer auf seinen Wegbegleitern. Alle Hoffnungen, die sie mit Jesus Wirken in der Welt schöpften, scheinen hinter diesem Stein begraben. Ein beklemmendes Gefühl hat sich in ihnen ausgebreitet; Steine wie Angst, Trauer, Ratlosigkeit oder Wut sammeln sich in ihren Herzen an.
Das Markusevangelium berichtet von drei Frauen, Wegbegleiterinnen Jesu, die sich gebeugt unter ihrer Last, mit traurigen Gedanken in Herz und Seele auf den Weg zum Grab machen. „Und sie sprachen untereinander: Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür?“ (Mk 16,3). Unter die schweren Steine der Trauer, mischt sich noch eine ganz lebenspraktische Sorge.
Aber dann das unglaubliche: der Stein ist weggewälzt, der Weg zu Jesus frei, die Grenze zwischen Leben und Tod mit einem Mal überwindbar. Da fällt den Frauen ein Stein vom Herzen. Erst nur ein kleiner. Doch als ihnen klar wird, dieser weggewälzte Stein bedeutet viel mehr, bedeutet das Grab ist leer, Jesus lebt, da löst sich das Gefühl der Beklemmung, da poltern regelrechte Felsbrocken von ihren Herzen sie können sich aufrichten und es macht sich die österliche Freude breit.
Auch in diesem Jahr lädt das Osterfest uns dazu ein, unsere Steine genauer zu betrachten. Was ist es, das uns gerade belastet? Die Sorge um die Altersvorsorge? Die Angst vor einem Rechtsruck in der Gesellschaft? Die Wut über sinnlose Kriege? Der Druck des Klimawandels?
Die Botschaft der Auferstehung, sie ist das Versprechen Gottes, die Steine, die uns im Leben so oft belasten, wegzurollen, wie den Stein vor Jesu Grab. Damit sind die Steine nicht verschwunden, aber sie versperren uns nicht länger den Weg zueinander und zu Gott. „Mir fällt ein Stein vom Herzen“. Dieses Gefühl, wieder frei atmen zu können, die Erleichterung, eine schwere Last los zu sein, wünscht man das nicht jedem? Wenn einem ein Stein vom Herzen fällt, eine schwere Last abgenommen wird, dann richtet das auf, so wie auch die Frauen am Grab aufgerichtet zurück gehen, die Botschaft vom Auferstandenen weitertragen.
Ostern, das heißt: der Stein ist weg – der Weg ist frei – das Leben siegt.
An Ostern schiebt Gott für mich meine Steine beiseite. Sie sind, genau wie der Stein vor Jesu Grab, nicht das Ende. Die Auferstehung Jesu ermutigt, unsere Steine aus einer anderen Perspektive zu betrachten, sie nicht länger als Hindernis zu sehen. Dann fragt man sich vielleicht, warum man all diese Steine nur so lange mit sich herumgeschleppt hat. Ostern schickt uns los, unsere Box mit Steinen einfach ins tiefe Laub zu kippen, die Mauern abzubauen, die Erleichterung zu spüren, den Weg ins Leben zu wagen.
Möge Ihnen an diesem Ostern ein Stein vom Herzen fallen.
Frohe Ostern!

Luise Klein

Luise Klein

Pfarrerin in der Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Martini, Minden