Auf dem Hauptweg eines Friedhofs, eingehüllt in das graue Licht eines Novembermorgens, schreiten zwei Männer und eine Frau mit einem Kind an der Hand mit schweren Schritten voran.
Sie erreichen eine Gedenktafel und halten inne, umgeben von einer erdrückenden Stille. Einer der Männer, tritt vor, hebt ehrfurchtsvoll seinen Hut und hält ihn gegen seine Brust. „Ich vermisse dich, Vater,“ spricht er mit zitternder Stimme. Dann legt er einen kleinen Kranz nieder auf dem steht: „Zur Mahnung vor den Schrecken von Hass und Gewalt“. Dann senkt er seinen Kopf in tiefem Respekt und geht wieder einen Schritt zurück.
Die Stille kehrt zurück, fast fühlbar in ihrer Schwere, bis sie von der Bewegung der Frau durchbrochen wird. Eine Träne bahnt sich ihren Weg über ihre Wange. Sie teilt einen stummen, verständnisvollen Blick mit ihrer Tochter, die neben ihr steht. Das Mädchen, holt einen Bilderrahmen aus ihrer Tasche und legt ihn neben den Kranz. Darin: das Bild eines Mannes in Uniform, stolz vor einer blau-gelben Flagge.
Die Stille legt sich erneut, bis der andere, jüngere Mann, sichtlich zögernd, einen Stein hervorholt. Er dreht ihn in seiner Hand, lässt ihn durch seine Finger gleiten, als wolle er Erinnerungen darin fassen. Nach einem langen, nachdenklichen Blick auf die anderen legt er den Stein neben Kranz und Bild. Auf ihm steht mit weißer Farbe geschrieben: „Shalom“.
Sie stehen da, gefangen in einem Moment der Erinnerung und Mahnung, bis die helle Stimme des Kindes die Stille durchbricht: „Ist euer Papa auch im Krieg gestorben?“ Die Frage, unschuldig und doch so schwer, lässt die Männer einander ansehen, bevor sie nickend zum Kind blicken.
Ohne etwas zu sagen, löst sich das Kind von der Hand seiner Mutter und geht auf einen der Männer zu, öffnet seine Arme und umarmt mit festem Blick erst den einen, dann den anderen Mann.
Noch einen Moment stehen die vier da. Dann irgendwann gehen sie, gemeinsam.

Alexander Möller

Alexander Möller

Pfarrer, Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Lahde