Minden – Einen Vortrag über die jüngere Geschichte des Judentums in Nordrhein-Westfalen hielt kürzlich Alexander Sperling, der Geschäftsführer des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe. Eingeladen hatte die Evangelische Kirche von Westfalen im Rahmen ihrer auf das jüdische Leben in Westfalen bezogenen Vortragsreihe zum deutschlandweiten Themenjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ in Kooperation mit der Offenen Kirche St. Simeonis und der Jüdischen Kultusgemeinde Minden.

Für das heutige Judentum in Westfalen sind zwei historische Eckdaten prägend – 1945 und 1989. Der Neuanfang des Judentums nach der Schoa begann in Westfalen unmittelbar nach Kriegsende: Schon im Sommer 1945 gab es hier wieder jüdische Gottesdienste. Bereits vor 75 Jahren, also 1946, wurde der Landesverband der jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe gegründet, damals zehn Gemeinden umfassend. Geprägt waren die Gemeinden in den ersten Jahrzehnten nach 1945 von der „Generation der Überlebenden“ der Schoa – den wenigen Menschen, die in Deutschland überlebt hatten, sowie denjenigen, die aus der Emigration zurückkehrten (wie der Mindener Max Ingberg). Hinzu gekommen und von der Öffentlichkeit lange Zeit weniger wahrgenommen war eine weitere Gruppe: Bereits 1945 gab es mehrere Hunderttausend Jüdinnen und Juden osteuropäischer Herkunft, die es durch die Wirren von Krieg und Schoa nach Deutschland verschlagen hatte.

Durch die Öffnung des Eisernen Vorhangs wanderten ab 1989 in wenigen Jahren zahlreiche jüdische Menschen aus den Nachfolgestaaten der UDSSR nach Deutschland ein und sorgten für eine neue demographische Grundlage für die Zukunft des Judentums auf deutschem Boden. Die Vervielfachung der Mitglieder stellte die Gemeinden vor gewaltige Integrationsaufgaben, so galt es allein in Westfalen, ca. 10.000 Neuankömmlinge in die bestehende jüdische Bevölkerung von insgesamt nur ca. 700 Menschen zu integrieren. Die Migrant*innen aus den Staaten der ehemaligen UDSSR sind als solche sehr vielfältig, außer Russisch hatten sie auch weitere muttersprachliche Traditionen, zum Beispiel Aserbaidschanisch oder Usbekisch. Trotz des fortbestehenden und sich neu formierenden Antisemitismus sieht das Judentum in Deutschland auch heute für sich eine Zukunft. Ein selbstbewusstes Sich-Entfalten der Gemeinden in der Öffentlichkeit, die Pflege der religiösen Bildung – in Westfalen gibt es zwei jüdische Kindertageseinrichtungen (Bochum, Dortmund), eine jüdische Grundschule ist geplant (Dortmund) – , und ein aktives „Empowerment“ der jungen Generation(en) sind wichtige Schritte in diesem Prozess.

Die landeskirchliche Vortragsreihe „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland und in Westfalen“ geht bis Anfang des Jahres, das vollständige Programm der landeskirchlichen Reihe findet sich im Internet (https://www.evangelisch-in-westfalen.de/fileadmin/user_upload/Themen/interreligoeser_dialog/17_jahrhunderte.pdf).

(Beitrag von Pfarrer Andreas Brügmann)