Minden. Der jüdisch-arabische Nahostkonflikt an sich ist brisant genug, doch nicht weniger hitzig sind die Konflikte, die in Deutschland (und erst recht in christlichen Kreisen) über diesen Konflikt geführt werden: „Solidarität mit Israel“ und „Solidarität mit den Palästinensern“ werden häufig gegeneinander ausgespielt, in hoch emotionalisierten Debatten, pauschalisierend und polemisch. Vor diesem Hintergrund ist ein Blick auf – ihrerseits durchaus unterschiedlich wertende! – kirchlich-offizielle Stellungnahmen zu „Israel und Palästina“ hilfreich, um die Diskussion zu versachlichen und den Blick für (selbst)kritische Analyse zu schärfen. Zu diesem Zweck referierte Ralf Lange-Sonntag, Beauftragter der Evangelischen Kirche von Westfalen für den interreligiösen Dialog und Pfarrer im Landeskirchenamt Bielefeld, zuständig für den Nahen und Mittleren Osten, auf Einladung der Offenen Kirche St. Simeonis und der Evangelischen Erwachsenenbildung in Minden. Dabei trat Verblüffendes zu Tage.

Offizielle kirchliche Stellungnahmen zu „Israel und Palästina“ sind erstaunlich jungen Datums – alle acht vorgestellten Positionspapiere stammen aus den letzten beiden Jahrzehnten. Dies liegt zum einen an der „politischen Großwetterlage“ in der Folge des seit den späten 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zunehmend vom Scheitern bedrohten „Oslo-Friedensprozesses“ (in Richtung Zwei-Staaten-Lösung) und der weltweiten Folgewirkungen von „Nine Eleven“ (Anti-Terror-Kampf). Vor allem aber – und das dürfte die allerwichtigste Erkenntnis aus diesem Vortragsabend sein – war und ist der jahrzehntelang gewachsene christlich-jüdische Dialog in der Folge der Shoa mit seiner kritischen Aufarbeitung der jahrhundertealten antijudaistischen Traditionen der christlichen Theologie Ausgangspunkt und Voraussetzung für jede kirchliche Auseinandersetzung mit dem Thema „Israel und Palästina“. Gerade die bedeutsame Stellungnahme der Westfälischen Kirche von 2003 über „Israel – Palästina – Frieden im Nahen Osten“ resultierte aus der theologischen Grunderkenntnis von der bleibenden Treue Gottes zu seinem Volk und der bleibenden Erwählung Israels (Hauptvorlage 1998 „Gott hat sein Volk nicht verstoßen“).

Als „innerkirchliches Wunder“ gilt die Stellungnahme der „Evangelischen Mittelost-Kommission“ (EMOK) „Israel – Palästina. Eine Positionsbestimmung“ von 2009, in der mehr als zwei Dutzend zum Teil sehr unterschiedliche kirchliche  Organisationen in Deutschland und Nahost zu einer gemeinsamen Erklärung gefunden haben.

Speziell aus dem Kontext der palästinensischen Kirchen stammt das umstrittene „Kairos-Papier“ (ebenfalls von 2009) „Stunde der Wahrheit“ – hier steht nicht der jüdisch-christliche Dialog als Ausgangspunkt, sondern die palästinensische Erfahrung der Realität der israelischen Besetzung, die theologisch als „Sünde“ deklariert wird – insgesamt eine Stellungnahme, die aus deutscher kirchlicher Sicht als einseitig und begrifflich problematisch gesehen wird und nur im Kontext des prekären Status der Kirchen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft verstanden werden kann. Ganz über das Ziel hinaus schießt das politisch und theologisch höchst fragwürdige Dokument: „Kairos Global für Justice – Cry for Hope“ von 2020 mit seiner Parallelisierung von deutschem Widerstand gegen das Hitlerregime und Widerstand gegen die Apartheid mit dem palästinensischen Befreiungskampf (z.B. in der Boykottkampagne BdS) – hier handelt es sich allerdings (im Gegensatz zu allen anderen an diesem Abend besprochenen Dokumenten) nicht um ein offizielles Kirchen-Dokument, von keinem der nahöstlichen Bischöfe oder Patriarchen wurde es unterschrieben. Auch die „Erklärung für einen gerechten Frieden zwischen Palästina und Israel“ der United Church of Christ (USA), die mit der Westfälischen Kirche ökumenisch verbunden ist, von 2021 ist auf dieser Linie zu kritisieren.

Wiederum ganz aus dem jüdisch-christlichen Dialog entspringt das Dokument „Land Israel – Staat Israel – heiliges Land“, ebenfalls von 2021, das die Evangelisch-Reformierte Kirche der Schweiz und der Schweizerische Israelitische Gemeindebund veröffentlicht haben. Mit seiner kreativen Neubestimmung zentraler theologischer (und in Debatten oftmals zu Schlagworten verkommener) Begriffe wie „Heiligkeit des Landes“, „Israel“, „Palästina“, „Zionismus“, gibt es wichtige theologische Impulse, könnte aber die menschenrechtliche Dimension als solche stärker thematisieren. Last not least die Stellungnahme: „Leitlinien und erläuternde Thesen Israel – Palästina“ gleichfalls aus dem Jahr 2021 – sie wurde von fünf deutschen Landeskirchen (darunter der Westfälischen) erarbeitet, speziell im Blick auf die für den Herbst 2022 in Karlsruhe anstehende Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen. Mit ihrer genuinen Verortung im christlich-jüdischen Dialog, ihrer begriffsschärfenden Art, ihrem Bemühen um „doppelte Solidarität“ mit Israel und Palästina (was nicht einfach „identische Solidarität“ bedeutet), und ihren sehr konkreten Impulsen zu praktischen Schritten für Frieden und Versöhnung in der aktuellen Situation ist sie das bisher beachtlichste Glied in der bunten Kette kirchlicher Stellungnahmen. Auf der Linie dieses Dokumentes formulierte der Referent Ralf Lange-Sonntag neun eigene Thesen – gipfelnd in dem Anstoß „praktische Kompromisse statt theoretische Gerechtigkeit“. Eine fruchtbare anschließende Diskussion und anhaltender Beifall des bunt gemischten Publikums, in dem außer vielen Interessierten aus kirchlichen Kreisen auch die Jüdische Kultusgemeinde Minden, die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und die Stadt Minden (Bereich Integration) vertreten waren, machten deutlich, dass der Referent mit seinem Vortrag den „richtigen Nerv der Zeit“ getroffen hatte.

(Beitrag von Pfarrer Andreas Brügmann / Offene Kirche St. Simeonis)