In ihrer Erzählung „Kassandra” lässt die Schriftstellerin Christa Wolf die trojanische Seherin Kassandra fragen: „Wann der Krieg beginnt, wissen wir, aber wann beginnt der Vorkrieg?“Die Erzählung von Christa Wolf ist eine moderne Verarbeitung des Trojanischen Krieges von Homer, allerdings mit dem Unterschied, dass Krieg und Gewalt hier nicht heldenhaft verherrlicht werden, sondern Gewalt und ihre Vorstufen unter kritisch analytischen Blick kommen.„Wann der Krieg beginnt, wissen wir, aber wann beginnt der Vorkrieg?“Im Abschnitt des Matthäusevangeliums, der vor zwei Wochen in den katholischen Kirchen gelesen wurde, setzt sich Jesus mit den Erdbeben, aber vor allem mit den Vorbeben der Gewalt auseinander: „Ihr habt gehört, dass den Alten gesagt wurde: Du sollst nicht töten. Ich aber sage Euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein..“. (Mt 5,21).Natürlich ist das orientalisch zugespitzt. Jeder von uns hat seinem Nächsten schon mal gezürnt und wird deswegen nicht gleich in der Hölle landen. Aber wenn dieser Satz auch nicht wortwörtlich zu verstehen ist, dann will er sagen: Die Gewalt beginnt im Kopf, im Zorn und im Hassen. Das zweite Vorbeben der Gewalt ist dann das Hetzen.Um die Frage der Seherin Kassandra zu beantworten:“ Wann beginnt der Vorkrieg?“, kann man biblisch aber genauso psychologisch und soziologisch sagen: Wenn Hass, Angst oder auch Frustration sich in Hetze umsetzen, dann braucht es nur noch eines labilen Menschen und einer Waffe bis Menschen tot auf der Straße liegen.

Die Botschaft Jesu ist nicht nur eine Botschaft an die Frustrierten und die Zornigen, sondern an alle Menschen: Gewalt beginnt im Kopf.

Wolfgang Ricke

Wolfgang Ricke

Pfarrer am Johannes Wesling Klinikum