Minden. Immer mehr Menschen geben ihre Mitgliedschaft in der Kirche auf, immer knapper werden die Ressourcen und immer schwieriger wird es, freie Pfarrstellen neu zu besetzen.
Wie kann es gelingen, Kirche neu aufzustellen? Darüber haben jetzt Superintendent Michael Mertins und die Mitglieder des Kreissynodalvorstands einen Tag lang mit Mitgliedern der Synode, Presbyter*innen und hauptamtlichen Mitarbeitenden aus Kirchengemeinden, Synodalen Diensten und kreiskirchlicher Verwaltung nachgedacht und diskutiert. Unter dem Motto „Wer aufbricht, der kann hoffen“ kamen rund 200 Vertreter*innen dieser Zielgruppen zusammen, um miteinander ins Gespräch zu kommen und Ideen zu entwickeln.
Der Tag begann in der St.-Marien-Kirche mit einem geistlichen Impuls von Superintendent Mertins und einem Vortrag von Prof. Dr. Uta Pohl-Patalong zu dem Thema „Wer aufbricht, der kann hoffen. Chancen und Möglichkeiten einer Transformation von Kirche und ihre Konsequenzen für den Evangelischen Kirchenkreis Minden“ in der St. Marien-Kirche. Pohl-Patalong lehrt an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel am Fachbereich Praktische Theologie. Ihre Habilitation 2002 trug den Titel „Parochialität und Nichtparochialität im Konflikt“ und galt damit einem Thema, das für Pohl-Patalong grundsätzlich eine zentrale Rolle spielt und das die Kirche auch gerade heute wieder stark beschäftigt.
In allen großen Kirchen gilt das Parochial-Prinzip, d. h. eine flächendeckende Versorgung ihrer Mitglieder wird dadurch erreicht, dass ein geographischer Raum wie ein Staat oder ein Bundesland in einzelne Pfarrgemeinden (= „Parochien“) aufgeteilt wird. Gegenwärtig ist es nun allerdings so, dass die Pfarrgemeinden gewissermaßen von der Fläche her immer größer werden müssten, damit noch eine volle Pfarrstelle besetzt werden kann. Schon aufgrund der langen Wege könnten solche Gemeinden aber kaum noch von einer einzigen Pfarrperson betreut werden.
In Westfalen gibt die Landeskirche beispielsweise derzeit vor, dass Vollzeit-Pfarrstellen bis Ende 2025 nur noch in Gemeinden möglich sind, die mindestens 3.000 Gemeindeglieder haben. Danach sind voraussichtlich sogar 4.000 Gemeindeglieder für eine volle Stelle nötig (bis 2030).
Bleibt es bei der gewohnten Gemeindegröße, fallen heutzutage bei Neubesetzungen von Pfarrstellen in aller Regel Stellenanteile weg; von Vollzeitstellen bleiben dann nur halbe oder dreiviertel Stellen übrig. Wo weiterhin eine Vollzeitstelle erhalten bleiben soll, müssen Gemeindegrenzen neu definiert werden. Da die Kirchenmitglieder-„Dichte“ pro Quadratkilometer tendenziell überall sinkt, würde also die Fläche, die ein*e Pfarrer*in zu versorgen hätte, immer größer.
Ein Ansatz, dieses Dilemma aufzulösen, ist das Konzept der Landeskirche, künftig verstärkt mit „Interprofessionellen Pastoralteams („IPT’s“) zu arbeiten. Neben Pfarrer*innen können einem solchen Team Personen aus den Berufsfeldern Gemeindepädagogik, Kirchenmusik und Verwaltung angehören. Für die Stellen-Bemessung kann dann in „Personalplanungsräumen“ gedacht werden, die unabhängig sind von althergebrachten Gemeindegrenzen. D. h., Gemeinden können sich zu Personalplanungsräumen zusammenschließen, die groß genug sind, dass Vollzeitstellen – oder auch Teilzeitstellen mit attraktivem Umfang – ausgeschrieben werden.
In ihrem Vortrag, der als Livestream in der Marien-Kirche zu sehen war, entwickelte Pohl-Patalong, dass die „territoriale Logik“ der Parochie beziehungsweise Ortsgemeinde zwar eine liebgewordene Gewohnheit, aber letztlich nicht mehr zeitgemäß ist. Denn seit Ende des 19. Jahrhunderts ist die Idee der Flächen-Gemeinde nahezu untrennbar verbunden mit dem Anspruch, dass die Pfarrperson möglichst alle Gemeindeglieder persönlich kennen und ein dichtes Netz an Gruppen- und Freizeitangeboten für unterschiedliche Altersstufen knüpfen soll. „Ein solches Netz lässt sich aber nur begrenzt dehnen in größere Gemeinden mit weniger Pfarrpersonen“, erklärte Pohl-Patalong. Irgendwann kippe das System und es müsse entweder das Prinzip der Flächendeckung oder der Anspruch auf vielfältige Angebote und persönliche Kontakte zur Pfarrperson aufgegeben werden.
Im Anschluss an den Vortrag von Pohl-Patalong und nach einer Aussprache im Plenum besuchten die Teilnehmer*innen jeweils einen von vier Workshops. In Workshop 1 in der Petrikirche ging es um personelle Ressourcen, also zum Beispiel um die Frage, wie dem Nachwuchsmangel in kirchlichen Berufen zu begegnen ist und wie sich einzelne Berufsbilder eventuell ändern müssten. In Workshop 2 im Marienstift wurde über kirchliche Strukturen diskutiert und darüber, wie gemeindliche Arbeit heutzutage gelingen kann. Workshop 3 im Haus der Landeskirchlichen Gemeinschaft befasste sich mit dem „Markenkern“ von Kirche, mit ihren Stärken und Potenzialen. Um die Chancen und Herausforderungen der aktuellen Relevanzkrise von Kirche drehte es sich in Workshop 4 im Martinihaus – dem herrschenden Trend zur Individualisierung und Vereinzelung steht ja die Jahrtausende alte Kompetenz der Kirche gegenüber, Gemeinde und Gemeinschaft zu stiften.
In einem bunten Gottesdienst zum Abschluss des Studientags wurden die Ergebnisse aus den vier Gottesdiensten vorgestellt, so dass alle Teilnehmenden einen Überblick über die Arbeit auch in den Workshops bekamen, die sie selbst nicht besucht hatten.
Rund 200 Personen waren der Einladung des Kirchenkreises zu dem Tag in und um die St.-Marienkirche gefolgt. „Allein das ist ein großer Erfolg“, stellte Superintendent Michael Mertins fest. „Viel wichtiger ist aber, dass den ganzen Tag über deutlich eine positive Aufbruch-Stimmung und ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl zu spüren waren“, meint er. Natürlich seien in allen Workshops auch Sorgen und Bedenken zur Sprache gekommen und es sei gut und wichtig gewesen, sich darüber auszutauschen. „Durch den Studientag ist aber auch das gute Gefühl entstanden, dass wir gemeinsam viel bewirken können und dass durch Kooperationen und Schwerpunktsetzungen Manches möglich werden kann, wofür bislang die Ressourcen fehlten.“
Beim Kirchenkreis entsteht nun eine umfangreiche Dokumentation des Studientags, die allen Teilnehmenden und allen Personen zur Verfügung gestellt wird, die eingeladen waren, aber nicht teilnehmen konnten. Noch vor den Sommerferien werden vier weitere Workshops stattfinden, die sich mit den vier angedachten Personalplanungs- und Kooperationsräumen befassen.