Minden. Seenotrettung ist KEIN Verbrechen! Stattdessen zivile Seenotrettung im Mittelmeer zu behindern und damit den Tod von Tausenden Flüchtenden in Kauf zu nehmen, ist ein solches. Darin waren sich die Teilnehmer*innen eines Studientages der Westfälischen Missionskonferenz (WMK), des Evangelischen Kirchenkreises Minden und des Zivilgesellschaftlichen Bündnisses Seebrücke-Minden einig.

Der jährlich stattfindende Studientag der WMK stand in diesem Jahr unter dem Thema „Die Menschenrechte und die aktuelle Situation an den EU-Außengrenzen“ und fand jetzt in Minden im Martinihaus statt.

„Die Menschenrechte gelten Menschen, nur weil sie Menschen sind. Sie werden aber für viele Menschen relativiert oder gar aufgehoben; Menschenrechte verlieren ihre Gültigkeit an den EU-Grenzen und weltweit.“ Mit dieser Aussage setzte Superintendent Michael Mertins in seiner Andacht ein erstes Zeitzeichen. „Viele Texte der Bibel bezeugen die jüdisch-christliche Überzeu­gung der unveräußerlichen Menschenrechte und alles Leben auf dieser Welt erfährt Gottes Hilfe zum Leben, indem für sie Recht und Gerechtigkeit gelten“, fuhr er fort. Wer Fremden das Recht abspreche, ein Mensch zu sein,  indem er ihm Schutz vorenthalte,  gefährde den Grund der eigenen Würde und des eigenen Menschenrechtes. Damit war der Grundton des Studientages gesetzt. Den Menschenrechten verpflichtet zu sein und sich für zivile Seenotrechnungen einzusetzen, ist kein Verbrechen. Wohl aber sind Pushbacks und Driftbacks, unüberwindliche Hochsicherheitszäune und tödliche Fluchtwege ein Verbrechen!

Julia Winkler von borderline-europe, einem Verein, der die Vorgänge an den Außengrenzen der EU recherchiert, dokumentiert und veröffentlicht, führte als erste Referentin des Studientages in die Welt von Pushbacks und Driftbacks ein, von nach europäischem Recht verbotenen Zurückweisungen von Flüchtenden ohne Überprüfung ihrer Rechte auf Asyl, von geheimen Gefängnissen, von Folter bis hin zu Leben gefährdenden Aktionen. „Mit einer zutiefst schockierenden Selbstverständlichkeit wurde beinahe unisono durch die politische und mediale Landschaft das Leiden und der Tod zahlreicher Menschen zwar bedauert, aber in seiner Unvermeidbarkeit nicht infrage gestellt, sondern als notwendiges Übel im Rahmen einer ‚hybriden Kriegsführung‘ hingenommen“, sagte sie. „Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben sind, werden zu Angreifern erklärt, gegen die sich Europa verteidigen darf, gegen die sich Europa verteidigen muss, und denen keinesfalls unser Mitgefühl gelten kann“, erklärte sie. Das primäre Ziel sei Abschreckung durch die Kriminalisierung von Flucht, von Flüchtenden; was allein zähle sei, dass keiner mehr komme. So erwarten in Griechenland und Italien Flüchtende, die das Fluchtfahrzeug steuern, jahrzehntelange Strafen. Ihre Forderung zum Ende ihres Berichtes lautete: „Umso mehr braucht es eine starke und laute Zivilgesellschaft, die dagegen ankämpft, die sich für die Unversehrtheit eines jeden Menschenlebens einsetzt, die dafür kämpft, dass statt in hochgerüstete Grenzsoldat*innen, Hochsicherheitslager, militarisierte Grenzanlagen und Überwachungstechnologie die Ressourcen in das Entwickeln und Entstehen menschenwürdiger Zukunftsszenarien fließen.“

Eine andere Perspektive nahm Robert Nestler ein, Jurist und Mitgründer von Equal-Rights-Beyond-Borders. Dem zweiten Referenten des Studientages gelang es, den zuhörenden Nicht-Jurist*innen die Welt des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) und ihres Versagens zu erklären. Sein erstes Fazit: „Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gibt einen eindeutigen Rahmen vor, an dem sich alle Mitgliedsstaaten zu orientieren haben. Wir haben kein Rechtssetzungs- und kein Rechtsrahmen-Problem, sondern ein Implementierungsproblem. Wir haben keine Flüchtlingskrise, sondern eine Flüchtlingsschutzkrise.“ Während die Politik immer wieder betone, wie wichtig ihnen die Einhaltung der Menschenrechte sei, sei de facto das Ziel, Asylanträge zu verhindern und schnellstens abzuschieben. Dies führe in Griechenland dazu, dass seit 2020 keine Rückführung in die Türkei möglich gewesen sei, dass Geflüchtete ohne Perspektive in Lagern festsitzen würden. „Ein Land wie Griechenland setzt per Beschluss das Asylrecht aus. Und Ursula von der Leyen lobt Griechenland als ‚Schild Europas‘.“

Das Fazit einer Arbeitsgruppe mit Robert Nestler am Nachmittag war: „Man kann im Einzelfall helfen, aber die Tendenz in Rechtsprechung und Gesetzgebung geht hin zu Verschlechterung in allen Bereichen. Es werden konservativere Richter*innen an EU-Gerichte gesandt. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, früher ein Leuchtturm, an dem sich andere orientiert haben, legitimiert mehr und mehr staatliches Handeln statt es zu verurteilen.“

Eine ganz andere Perspektive bot der dritte Referent, Julian Pahlke, ziviler Seenotretter und seit zwei Jahren Mitglied des Deutschen Bundestages. Wie bereiten sich eigentlich zivile Seenotretter*innen auf ihre Einsätze im Mittelmeer vor? Vor welche Herausforderungen stellt die Aufgabe, Menschen auf hoher See aus überfüllten und für das offene Meer ungeeigneten Fluchtbooten zu retten? Den Zuhörenden wurde mehr als deutlich, wie professionelle zivile Seenotrettung auf eine Politik stößt, die ihre Arbeit zu erschweren und zu kriminalisieren sucht. Mit unterschiedlichen Programmen und europäischen Initiativen versucht die Bundesregierung, auf die Situation von Geflüchteten an den EU-Außengrenzen und in der EU einzuwirken. Hierzu gehört auch der Beschluss der Bundesregierung, United4Rescue, das breite Bündnis in Deutschland zur Unterstützung der zivilen Seenotrettung mit jährlich 2 Millionen Euro bis 2026 zu unterstützen. Gegenwärtig werden die Konditionen der Zusammenarbeit geklärt. „Die Politik braucht ein starkes zivilgesellschaftliches Engagement, um eine Politik durchzusetzen, in der die Würde des Menschen und das Recht von Geflüchteten auf ein faires Verfahren gesichert sind“, erklärte Pahlke. Aus der Runde der Zuhörer*innen kam dazu der Kommentar: „Deutschland braucht Zuwanderung. Wir brauchen Programme und Projekte gelingender Integration statt zu versuchen, die Zahl von Abschiebungen zu erhöhen.“

Um die Themen Zuwanderung und Integration ging es dann auch in einer Arbeitsgruppe am Nachmittag mit Schahina Gambir, Bundestagsabgeordnete aus dem Kreis Minden-Lübbecke. Sie stellte sich vor allem den Fragen von Mitgliedern der großen afghanischen Community in Minden. Es gab viel Kritik am Bundesaufnahmeprogramm für besonders gefährdete Afghan*innen. Schahina Gambir machte sich Teile der Kritik zu eigen. Sie verteidigte das Programm als Vorzeigeprogramm im Rahmen des westlichen Bündnisses. Einig waren sich beide Seiten, dass dieses Programm geöffnet werden muss für Afghan*innen, die bereits das Land verlassen haben und nun in Pakistan oder im Iran von Abschiebung nach Afghanistan bedroht sind. „Hier muss es eine Ausweitung des Programms geben, an dem die Bundesregierung schon arbeitet.“ Weiterhin befasste sich die Arbeitsgruppe mit der Frage, warum es nicht möglich ist, diejenigen 471 Personen, die der Arbeitskreis Afghanistan vor Monaten dem Auswärtigen Amt ausführlich dokumentiert, gemeldet hat, in einem vereinfachten Verfahren einreisen zu lassen, zumal Minden für eine Aufnahme bereit ist? Warum ist es nicht möglich, dass die Überprüfung der Personen in Deutschland passiert angesichts der Tatsache, dass zum Beispiel die Botschaft in Pakistan absolut überfordert ist, die Fülle der Anträge zu bewältigen? Zuletzt ging es um die jungen Afghan*innen, die seit mehreren Jahren in Deutschland als Geduldete leben, während schon lange klar ist, dass nach Afghanistan eigentlich niemand abgeschoben werden darf. Wer unter Duldung in Deutschland lebt, lebt auf gepackten Koffern. Deutschland verpasst hier eine Chance, junge Leute für eine Zukunft in Deutschland auszubilden.

Der Studientag endete mit einem Brief an den Bundesminister für Digitales und Verkehr Volker Wissing. Aktuell geht es um Pläne des Ministers, die Schiffsicherheitsverordnung für Seenotrettungsschiffe unter deutscher Flagge zu verschärfen, was zu deutlichen Einschränkungen des deutschen zivilen Engagements im Mittelmeer führen würde – bis hin zur Einstellung.

In einem offenen Brief an den Minister forderten die Teilnehmer*innen des Studientags: „Zivile Seenotrettung ist kein Verbrechen! Diese Verordnung ist nicht nur ein Angriff auf die zivile Seenotrettung, sondern auch ein Angriff auf die universellen Menschenrechte. Stoppen Sie Ihre Pläne! Bekennen Sie sich öffentlich zur zivilen Seenotrettung, entsprechend der Koalitionsvereinbarung!“

„Ich bin eher traurig nach Hause gefahren, weil einfach so deutlich wurde, wie grauenhaft die Situation für die Flüchtlinge ist“, fasste eine Teilnehmerin am Ende des Studientages ihre Eindrücke zusammen. „Gleichzeitig bin ich immer wieder von der absoluten Hilfsbereitschaft der Helfer und Helferinnen berührt – auch derer, die hier bei uns Flüchtlingsdienste leisten.“

(Beitrag von Rüdiger Höcker / Seebrücke Minden)