Liebe Leser,
mitten in der fünften Welle begleitet von Dauerangst, Lärm in Medien und auf Straßen sowie Rissen in der Gesellschaft, ist die Frage, was und wer jetzt noch helfen kann: Impfen, im Gespräch bleiben bei allen Verschiedenheiten, Hoffnung geben, wo Kraft ausgeht, unbedingt. Letzteres beides versuche ich als Krankenhauspfarrer.
Und wer hilft? Sicher kein starker Mann, den manche sich wünschen, denn Autokraten beherrschen nicht die Balance von Freiheit und Verantwortung aller. Es bedarf stattdessen überall begnadeter Menschen. Begnadet darin, in der Wissenschaft, Lösungen zu finden. Begnadet an musikalischem Können, da Musik Flügel und neue Kraft verleiht. Begnadet in der Art der jetzt noch immer menschlichen Zuwendung bei der Pflege von kranken und alten Menschen.
Doch wo finden wir sie auch bei uns im Alltag? Der christliche Glaube antwortet: Bei einem mit deinem Herzen offenen Blick in den Spiegel. Nicht in dem des sich digital inszenierenden Narzissten, sondern durch Rückkehr zu dem, woher das Wort Gnade kommt:
Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. (Johannes 1,14).
Wenn sie alle in dieser Zeit dich aufstacheln, du könnest alles aus dir und allem herausholen, wenn du nur willst. Und wenn dann, weil‘s nicht funktioniert, die eine immer nur sich und der andere immer nur andern die Schuld gibt? Dann steht das Wort Gnade dem genau entgegen. Sie ist dir geschenkt, jeder und jede – fehlerbehaftet – ist auf sie angewiesen.
Und es anzunehmen, was dir geschenkt ist, ohne es beanspruchen zu können, das ist alles. Was wäre das für ein Leben, wenn wir alle wüssten, wir haben auf nichts einen Anspruch? Müssen wir dafür erst ins Krankenhaus kommen oder in eine Pandemie geraten? Alles ist Gnade, lassen wir los und nehmen täglich an, was in Fülle aus einer anderen Hand uns verliehen und geliehen ist.
Die Kriegsgeneration weiß davon, sie sollten wir in dieser Zeit fragen nach unserer Gnade der späten Geburt, statt sie zu isolieren. Vielleicht hört dann die vergebliche Suche nach Rettern auf der einen und Schuldigen auf der anderen Seite auf und der Lärm legt sich. Dann wären wir alle das, wozu wir eigentlich geschaffen sind: Begnadete Menschen.
Pfarrer Oliver Vogelsmeier
Klinikseelsorger im Johannes-Wesling-Klinikum Minden